Alban Nikolai Herbst: Briefe nach Triest
Der Autor
Alban Nikolai Herbst ist ein vielseitiger Schriftsteller. Ein wichtiger und beeindruckender Teil seines Werks ist der Blog „Die Dschungel. Anderswelt“, den er bereits seit 2004 betreibt, seit einer Zeit also, in der das Internet noch bei weitem nicht die Rolle im Alltag der Mehrheit spielte wie heute.
Figurenreigen
In diesem Jahr hat die Bloggerlegende einen neuen Roman vorgelegt, die „Briefe nach Triest“. Keimzelle des Textes ist die Kurzzeitliebesbeziehung zwischen dem Musiker Lars und einer – nach ihrem Wohnsitz Triest – nur „Die Triestina“ genannten Frau. Diese Liaison scheint für beide Seiten von großer Bedeutung gewesen zu sein, wurde jedoch von der „Triestina“ beendet, die nun auch keinen Kontakt mehr wünscht. Lars, der diesen Wunsch einerseits respektiert, andererseits den Drang hat, ihm zuwiderzuhandeln, beauftragt einen Freund, der Ex-Geliebten Briefe – eigentlich: E-Mails – zu schreiben, gibt ihm aber nur spärliche Informationen zum dem, was sich zwischen den beiden Liebenden abgespielt hat. Aus diesen unbeantworteten und wahrscheinlich ungelesenen Botschaften an die Triestina besteht der Roman.
Der Briefe verfassende Freund ist so gezeichnet, dass der Leser zumindest dazu eingeladen wird, ihn mit Alban Nikolai Herbst gleichzusetzen (etwa gibt es einen Hinweis auf das zunächst verbotene Buch „Meere“). Was „Herbst“ – könnte man daher sagen – nun tut, ist, die Beziehung von Lars und der Triestina nachzudichten, indem er in den Mails ein zweites Paar erfindet und dessen Geschichte erzählt: die des Bankers Brec und der „Lyderin“. Dabei bleibt es indes nicht. In einer Art Kettenreaktion entstehen immer weitere Paare, die eine immer geringere Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen haben. Spätestens als der Briefschreiber selbst zum Teil der Handlung wird – der fiktiven sowie der innerhalb des Textes als real gesetzten – und zudem am Rand des Geschehens auch außerhalb des Romans reale Persönlichkeiten wie die Schriftstellerin Ricarda Junge auftauchen, ist ein Figurenreigen in Gang gesetzt, der sich als „irr-witzig“ bezeichnen ließe: nämlich als „irre“ und witzig.
Metafiktion
„Die Briefe nach Triest“ sind Metafiktion par excellence. Wir schauen dem Autor unentwegt über die Schulter, beobachten die Spielzüge, die er mit seinen Figuren ausführt. Das hat den Nachteil, dass man das Personal des Buches in ebendieser Weise wahrnimmt: als Spielfiguren, deren Geschick einen nicht sonderlich berührt. Das metafiktionale Verfahren hat andererseits den Vorteil, dass der Text leichter auf einer essayistischen Schiene gleitet – und darum ging es Herbst vermutlich vor allem. Im Grunde sind die „Briefe“ mehr großangelegter Essay als Roman im herkömmlichen Sinne; die Figuren dienen in erster Linie dazu, das Thema zu exemplifizieren. Was der Autor zu ergründen sucht, ist – scheint mir – das Phänomen der flüchtigen Liebesaffäre, die flüchtig aber nur ist hinsichtlich ihrer Dauer im äußeren Leben, nachhaltig jedoch in ihrer Wirkung auf die innere Existenz: Lars ist durch sein „Triestina-Erlebnis“ ganz und gar aus dem Gleichgewicht geraten und findet es auch nicht mehr.
Eine herausfordernde Lektüre
Selbst für den geübten Leser sind die „Briefe“ eine Herausforderung. Nicht allein aufgrund des Mindmap-artig vielfach verästelten Aufbaus – ich war dankbar für das Personenverzeichnis am Ende des Buches –, sondern auch wegen der äußerst komplexen Sprache, die in ihrer Rhythmik zugleich einen starken Reiz ausübt. Überhaupt waren es insbesondere die sprachlichen Details, die mich bei diesem Roman „dranbleiben“ ließen. Man spürt, mit welcher Hingabe Herbst am einzelnen Satz gefeilt haben muss. Dass er dabei von Musik inspiriert gewesen sein könnte, darauf deuten die zahlreichen Bezüge zu klassischen Kompositionen hin. Originell ist in diesem Zusammenhang die Verwendung eines senkrechten Strichs als zusätzliches Satzzeichen, das an den Taktstrich in der Notenschrift erinnert und dem wohl in etwa der Pausenwert eines Semikolons zukommt.
Resümee
Abschließend möchte ich sagen, dass „Die Dschungel. Anderswelt“ ein Titel auch für die „Briefe“ sein könnte: Herbst hat einen faszinierenden literarischen Dschungel geschaffen, in dem aber nur überlebt, wer über wohltrainierte Lesemuskeln verfügt. Gleichzeitig ist das Buch insofern eine „Anderswelt“, als es sich deutlich von den meisten Werken der deutschen Gegenwartsprosa unterscheidet. Ich empfehle es all denjenigen, die Lust auf eine konzeptionell und stilistisch völlig andere Lektüre haben.










