Thomas Kunst habe ich (für mich) etwa 2016 entdeckt ─ durch das schöne Hardcover „Kunst. Gedichte 1984-2014“, erschienen in der „edition AZUR“.
Thomas Kunst wurde „als ewiger Geheimtipp gehandelt“. Durch seine Suhrkamp-Veröffentlichungen dürfte er mittlerweile aber einem größeren Publikum bekannt sein, was erfreulich ist.
Im Folgenden möchte ich kurz auf das Gedicht „Du brauchst dich niemals mehr für mich zu schämen“ eingehen (weiter unten vollständig zitiert), weil es aus dem besagten Band eines derjenigen ist, die mir am deutlichsten in Erinnerung geblieben sind. ─ Warum? Ich vermute: In erster Linie wegen der interessanten Kontraste, mit denen es aufwartet. Da ist zum einen der Gegensatz zwischen der „hyperklassischen“ Sonettform und dem ausgesprochen aktuellen Eindruck, den das Gedicht ansonsten macht – durch den Gebrauch von Umgangssprache und die Anspielung auf Social-Media-Aktivitäten. (Dieser Kontrast spiegelt sich im Kleinen in der Zeile „Doch sag mir rechtzeitig, um wen du wirbst“, wo der alltagssprachliche Duktus mit dem Wort „werben“ durchbrochen wird, das wieder in die andere, die klassische Richtung weist.) – Dieser Antagonismus verleiht dem Text, bei aller Ernsthaftigkeit, eine ironische Nuance, die mir gut gefällt.
Vielleicht kein Gegensatz, aber zumindest eine Spannung besteht andererseits zwischen dem tieftraurigen, resignativen Grundton und etwas Trotzig-Aggressivem, was hie und da aufblitzt („An deinen freien Tagen bist du wer“, „Und melde dich erst wieder, wenn du stirbst“). Fast könnte man meinen, das lyrische Ich sei um ein Haar zum Stalker oder gar Mörder dieser anderen Person geworden, bevor es beschloss, sie aus seinem Leben einfach zu streichen (oder dies wenigstens zu versuchen).
DU BRAUCHST DICH NIEMALS MEHR FÜR MICH ZU SCHÄMEN.
Ich werde nicht mehr vor den Schulen stehen,
Zu wenig Bildung für ein Wiedersehen,
Nur Neigungen von Brot bis Radio Bremen.
Ich habe dich anscheinend nie beschissen
Genug behandelt, daß es für uns langte,
Mir war nicht klar, woran ich mehr erkrankte,
Am Tod oder am Handy unterm Kissen.
An deinen freien Tagen bist du wer,
Mit facebook, web.de und wer-kennt-wen,
Doch sag mir rechtzeitig, um wen du wirbst.
Rod Stewart ist schon viel zu lange her,
Erspare mir, euch einkaufen zu sehen,
Und melde dich erst wieder, wenn du stirbst.
Quellennachweis: Thomas Kunst, Kunst. Gedichte 1984-2014, Dresden 2015; S. 24