von Arno Dahmer 06 März, 2024
Eines der interessantesten Bücher, die ich in der letzten Zeit gelesen habe, ist „Franziska Linkerhand“ von Brigitte Reimann. Die Qualität dieses Romans hat mich regelrecht verblüfft, denn das Buch erschien bereits 1974 und bis vor kurzem kannte ich nicht einmal den Namen der Autorin – was damit zu tun haben könnte, dass ich in Westdeutschland aufgewachsen bin. „Franziska Linkerhand“ erzählt von einer jungen Architektin, die mit ihrem Ideal eines menschenwürdigen Städtebaus an den Realitäten des DDR-Systems scheitert. Vieles daran hat mich fasziniert: Die melodische Sprache, die packenden Dialoge, der innere Konflikt der Hauptfigur, die den Realsozialismus einerseits bejaht (was zum Teil eine Rebellion gegen ihr bourgeoises Elternhaus zu sein scheint), andererseits kritisch sieht, und vor allem eine Figurenzeichnung, die in der neueren deutschen Literatur ihresgleichen sucht. Genial ist etwa das Porträt des sympathischen „Don Juans“ Jazwauk oder auch, wie der prinzipientreue Vorgesetzte Schafheutlin charakterisiert wird (allein der Name!). Lediglich die Figur Trojanowicz (Franziskas „Amour fou“) fand ich in ihrer James-Bond-Coolness etwas klischeehaft. (Mag sein, dass es hier eher eine bestimmte Art gestriger Männlichkeit ist, die – in tendenziell verherrlichender Weise dargestellt – aus heutiger Sicht schablonenhaft wirkt, wenigstens auf mich.) Interessant fand ich auch die „DDR-Binnenperspektive“, die das Buch natürlich spürbar von nach dem Mauerfall geschriebenen literarischen Werken mit DDR-Thematik unterscheidet. Einschränkend muss ich sagen, dass der Impuls, das Buch weiterzulesen, bei mir nach etwa zwei Dritteln nachließ. Ich fragte mich, worauf das Ganze hinauslaufen solle. Zwar kann man der Autorin gewisse dramaturgische Mängel nicht anlasten: Sie starb schon 1973, das Werk blieb unvollendet. Indes ging es mir mit „Franziska Linkerhand“ ähnlich wie mit den Romanen Kafkas (die ja alle Fragmente sind): Sie haben mich tief beeindruckt und doch konnte ich mir kaum vorstellen, wie sich diesen Torsi ein befriedigendes Ende anfügen ließe. Dennoch: Wenn ich eine Liste mit zwanzig lesenswerten, nach 1945 erschienenen Romanen in deutscher Sprache erstellen sollte, fände „Franziska Linkerhand“ darauf sicher einen Platz.
Stefan George, Aus dem Nachlass
von Arno Dahmer 08 Jan., 2024
„Das ist eben die aufgabe die weite des innern raumes mit der enge des äussern ständig zu vereinbaren.“ Aphorismus aus dem Nachlass Stefan Georges (Stefan George, „Von Kultur und Göttern reden“, Aus dem Nachlass , Stuttgart 2018; S. 77)
Beigbeder: 39,90
von Arno Dahmer 03 Juli, 2023
Dieses Buch erschien vor mehr als zwanzig Jahren (was man unter anderem daran merkt, dass die schwerreiche Hauptfigur eine Stereoanlage mit „6fach-CD-Wechsler“ und, aus heutiger Sicht besonders witzig, ein Handy „mit integriertem Faxmodem“ besitzt …). Ich würde „Neununddreißigneunzig“ dem Genre der „Ho-ho-wie-krass-Literatur“ à la Houellebecq zuordnen (der Beigbeder, laut Wikipedia , „aufgefordert“ haben soll, dieses Buch zu schreiben – und zudem darin zitiert sowie in der Danksagung erwähnt wird). Nichtsdestoweniger ist es ein passagenweise brillantes Werk. Der Werber Octave Parango hasst seine Berufstätigkeit, sieht in der Werbung eine satanische Macht, die für nahezu alles Böse in der Welt verantwortlich ist. Dennoch scheint er sich von seinem Job letztlich nicht lösen zu können. Das Ende ist düster. Ausgehend von diesem einen Buch – das heißt, ohne seine anderen Werke zu kennen – würde ich sagen, Beigbeder ist mehr Essayist bzw. Texter als Romancier. Die stärksten Abschnitte von „Neununddreißigneunzig“ sind die Reflexionen über die Welt der Werbung und die in den Text eingestreuten Beschreibungen (hoffentlich) fiktiver Werbespots. Besonders bei Letzteren zeigt sich der Autor als Meister des schwarzen Humors (ein Humor, der, in der Beigbeder’schen Ausprägung, allerdings nicht ganz leicht erträglich ist). Das literarische Personal und die Schauplätze bleiben dagegen eher blass. Die Charaktere wirken zum Teil auch unglaubwürdig: Die Prostituierte Tamara, die wichtigste weibliche Figur, präsentiert sich dem Leser in einer Szene ungefähr in der Mitte des Buches als sensibel und verletzlich, nur um wenige Seiten später eine Rentnerin mit einem Judogriff aufs Kreuz zu legen. Auch dass Parango nach seinem sozialen Abstieg mit einem Mal von Vaterschaft träumt (zuvor hat er seine Freundin verstoßen, weil sie schwanger war), kauft man dem Erzähler nicht so recht ab. Es ist zwar psychologisch nicht völlig unwahrscheinlich, wirkt aber doch aufgesetzt und wie der Versuch, dem Roman durch eine Art Läuterung des Protagonisten eine Abrundung zu geben. Trotz dieser Schwächen finde ich „Neununddreißigneunzig“ lesenswert als gelungene – wenngleich natürlich sarkastisch überspitzte – Kapitalismuskritik. Es ist indes mit Sicherheit kein Buch, dass den Leser mit einem guten Gefühl entlässt. Hier mag man einwenden, dass dies kein literarisches Kriterium und auch bei zahllosen Werken der Weltliteratur der Fall sei. Das stimmt. Ich kenne jedoch kaum einen nihilistischeren Text als diesen Roman. Die „Moral“ des Buches ließe sich in etwa wie folgt zusammenfassen: „Egal, was du tust, du wirst verzweifeln und dann wahrscheinlich Selbstmord begehen (was angesichts des Zustands dieser Welt ohnehin das Beste ist).“
Peter Kurzeck: Und wo mein Haus?
von Arno Dahmer 03 Okt., 2022
Vor wenigen Wochen erschien „Und wo mein Haus?“, der achte Band von Peter Kurzecks autobiografischer Romanfolge „Das alte Jahrhundert“. Zu Lebzeiten des 2013 verstorbenen Autors wurden davon fünf Bände publiziert, posthum bisher drei (diesen eingeschlossen). „Und wo mein Haus?“ zerfällt in zwei Teile: 100 Seiten zusammenhängender Text und 60 Seiten „Notizen und Dokumente“. Das Buch ist also kein Roman im üblichen Sinne, sondern – ebenso wie die anderen Nachlass-Bände – ein Romanfragment, das in dieser Form nicht für die Veröffentlichung bestimmt war. Insofern hat es mich überrascht, dass Teil 1 „ein austrainierter Kurzeck“ ist – die Überraschung mag indes auch damit zu tun haben, dass ich Band 6 und 7 noch nicht kenne; möglicherweise ist der Text dort ähnlich durchgearbeitet. Ja, dieser erste Teil scheint publikationsreif gewesen zu sein, auch wenn er vielleicht nicht ganz den Schliff von Meisterwerken wie „Übers Eis“ oder „Oktober“ hat und die Qualität zum Ende hin leicht abfällt: Der Text wirkt hier stellenweise etwas wirr und eine gewisse Redundanz ist zu beobachten. Das „Und wo mein Haus?“-Manuskript gehörte ursprünglich zu dem 1000-Seiter „Vorabend“. Daher ist die Rahmenhandlung dieselbe: Der Ich-Erzähler (laut Selbstaussagen Kurzecks identisch mit ihm, dem Autor) ist mit Freundin und Tochter zu Besuch in Frankfurt-Eschersheim, bei seinem Freund Jürgen und dessen Lebensgefährtin. Obwohl er sich eigentlich ausruhen möchte, gerät er in einen regelrechten Erzählrausch. – Dieser Rahmen spielt allerdings in „Und wo mein Haus?“ keine wesentliche Rolle und ist kaum erkennbar: im Grunde nur für den, der „Vorabend“ bereits gelesen hat. Auf der obersten Ebene der Binnenhandlung geschieht, typisch für Kurzeck, eigentlich recht wenig: Der Erzähler fährt mit dem Zug von Frankfurt nach Gießen. – Das klingt langweilig, ist es aber nicht, denn die Fahrt und insbesondere der Gießener Bahnhof lösen ein wahres Feuerwerk an Erinnerungen aus. „Während ich schreibe, ist immer jetzt“, heißt es auf der ebenfalls erst nach dem Tod des Autors veröffentlichten Hör-CD „Für immer“. Das glaubt man ihm aufs Wort, denn eine besondere Stärke seiner Prosa ist, wie es ihr gelingt, Simultanität zu erzeugen. Fast mehr noch als in anderen Werken verschmilzt Kurzeck in „Und wo mein Haus?“ Zeiten und Räume, vor allem im ersten Abschnitt des zusammenhängenden Textes, in dem es um das schwierige, doch (aus Sicht des Kindes) abenteuerliche Nachkriegsleben geht – mit Vater, Mutter und Schwester in Staufenberg (bei Gießen), wo die Familie nach der Flucht aus Böhmen untergekommen war: „Mein Vater mischt Tabak in eine große amerikanische Tabakbüchse aus glänzendem rotem Lack. Und das viele Wild, sagt er. […] Und gleich sehe ich einen großen dämmrigen Wald, aber dann ist es doch nur ein böhmischer Wandteppich, der bei meiner Tante Resi in Kelkheim im Taunus über einem Küchensofa hängt. […] Auf dem Teppich ein Hirsch. Hat sich aufgestellt, um zu brüllen. […] Im Wald hell das Morgenlicht. […] Und immer mehr Sonne auf meinem Weg. Ich sah mich davongehen, sagte ich. […] Und wie ich im Gehen groß werde und erwachsen. Sagte ich in Eschersheim. Und muß mir immer noch nachsehen. Und dann bin ich wieder fünf Jahre alt. […] Bei uns am Küchentisch“ (S. 39/40). Ein zweiter wichtiger Teil des Erinnerungsgeflechts ist die Arbeitswelt der Gießener Labor Service Companies (zivile Arbeitseinheiten der US-Army), wo Kurzeck selbst zehn Jahre tätig war. Der Erzähler interessiert sich vor allem für das Schicksal der dort beschäftigten „Displaced Persons“ aus Osteuropa, die unmittelbar nach dem Krieg einen relativ hohen Sozialstatus hatten, diesen aber schon bald wieder einbüßten: „Hiwis, Hilfsamis, Amipolacken, sagen die Leute. Erst mit Neid, mit Bewunderung, dann gleichgültig, dann geringschätzig“ (S. 66). Ein paar Jahrzehnte nach dem Krieg sind einige von ihnen noch immer bei der Army, werden zwar als Arbeitskräfte nicht mehr gebraucht, aber auch nicht entlassen. Sie sind nun „überzählig“ und werden mit absurden Verrichtungen wie ständigem Fahnenmasten-Anstreichen beauftragt. Kurzeck, der ohnehin in allen seinen Büchern auch ein Satiriker ist, erweist sich insbesondere in diesem Abschnitt von „Und wo mein Haus?“ als großer Humorist oder, richtiger: Tragikomiker. „Ein kleiner Bach. […] Erst denkt man, das ist ja die Wieseck, aber dann ist es doch nur ein Nebenflüßchen der Wieseck. Das könnt ihr auch bewachen. Könnt auf der Böschung sitzen. Da ist es still. Nicht reinkacken. Keine leeren Flaschen ins Wasser schmeißen. […] Beim Salutieren die Zigarette aus dem Mund und nicht aus der Flasche trinken. Nicht gleichzeitig! Wache stehen, aber daß es nicht so auffällt“ (S. 95). Die „Notizen und Dokumente“ – die letzten 60 Seiten des Buches – sind naturgemäß etwas mühsam zu lesen. Andererseits ist es interessant zu sehen, wie der Autor sich zum fertigen Text hingearbeitet hat. Und man findet in diesem Teil brillante Prosastücke, die auch ganz ohne den Romanzusammenhang auskämen, etwa: „u-bahn. alle mit geputzten schuhen. Staatsbürgergesichter. in hundert od. zweihundert jahren. dann tot, sagten jürgen und sibylle. vielleicht, sagte ich“ (S. 148). Abschließend möchte ich die (rhetorische) Frage stellen, ob ein Perfektionist wie Kurzeck, der in seinen autobiografischen Texten davon berichtet, „jede Seite zwanzigmal“ abgetippt zu haben, überhaupt mit der Veröffentlichung von Unfertigem einverstanden gewesen wäre. Doch könnten diese Frage selbstverständlich nur Menschen beantworten, die ihn persönlich kannten. Für die Leser ist die Publikation eines solchen Buches in jedem Fall ein Gewinn, speziell für die wachsende Zahl der Kurzeck-Enthusiasten. Allerdings ist „Und wo mein Haus?“ vermutlich weniger gut geeignet als Einstieg in Kurzecks Werk. – Ich persönlich würde zum Kennenlernen „Oktober“ empfehlen. Kurzeck-Neulingen möchte ich zudem den generellen Ratschlag geben, am Anfang etwas Geduld zu haben: Obwohl seine Bücher (zumindest die Bände des „alten Jahrhunderts“) eigentlich leicht zu lesen sind, braucht es doch ein wenig Zeit, um sich an die Sprache des Autors und seinen eigentümlichen Blick auf die Welt zu gewöhnen. Dann aber kann die Lektüre seiner Romane eine sehr tiefgreifende und sogar lebensverändernde Erfahrung sein. Quellennachweis: Peter Kurzeck, Und wo mein Haus?, Kde domov muj (Das alte Jahrhundert 8), Frankfurt am Main 2022.
Thomas Kunst: Gedichte
von Arno Dahmer 09 Aug., 2022
Thomas Kunst habe ich (für mich) etwa 2016 entdeckt ─ durch das schöne Hardcover „Kunst. Gedichte 1984-2014“, erschienen in der „edition AZUR“ . Thomas Kunst wurde „als ewiger Geheimtipp gehandelt“ . Durch seine Suhrkamp-Veröffentlichungen dürfte er mittlerweile aber einem größeren Publikum bekannt sein, was erfreulich ist. Im Folgenden möchte ich kurz auf das Gedicht „Du brauchst dich niemals mehr für mich zu schämen“ eingehen (weiter unten vollständig zitiert), weil es aus dem besagten Band eines derjenigen ist, die mir am deutlichsten in Erinnerung geblieben sind. ─ Warum? Ich vermute: In erster Linie wegen der interessanten Kontraste, mit denen es aufwartet. Da ist zum einen der Gegensatz zwischen der „hyperklassischen“ Sonettform und dem ausgesprochen aktuellen Eindruck, den das Gedicht ansonsten macht – durch den Gebrauch von Umgangssprache und die Anspielung auf Social-Media-Aktivitäten. (Dieser Kontrast spiegelt sich im Kleinen in der Zeile „Doch sag mir rechtzeitig, um wen du wirbst“, wo der alltagssprachliche Duktus mit dem Wort „werben“ durchbrochen wird, das wieder in die andere, die klassische Richtung weist.) – Dieser Antagonismus verleiht dem Text, bei aller Ernsthaftigkeit, eine ironische Nuance, die mir gut gefällt. Vielleicht kein Gegensatz, aber zumindest eine Spannung besteht andererseits zwischen dem tieftraurigen, resignativen Grundton und etwas Trotzig-Aggressivem, was hie und da aufblitzt („An deinen freien Tagen bist du wer“, „Und melde dich erst wieder, wenn du stirbst“). Fast könnte man meinen, das lyrische Ich sei um ein Haar zum Stalker oder gar Mörder dieser anderen Person geworden, bevor es beschloss, sie aus seinem Leben einfach zu streichen (oder dies wenigstens zu versuchen). DU BRAUCHST DICH NIEMALS MEHR FÜR MICH ZU SCHÄMEN. Ich werde nicht mehr vor den Schulen stehen, Zu wenig Bildung für ein Wiedersehen, Nur Neigungen von Brot bis Radio Bremen. Ich habe dich anscheinend nie beschissen Genug behandelt, daß es für uns langte, Mir war nicht klar, woran ich mehr erkrankte, Am Tod oder am Handy unterm Kissen. An deinen freien Tagen bist du wer, Mit facebook, web.de und wer-kennt-wen, Doch sag mir rechtzeitig, um wen du wirbst. Rod Stewart ist schon viel zu lange her, Erspare mir, euch einkaufen zu sehen, Und melde dich erst wieder, wenn du stirbst. Quellennachweis: Thomas Kunst, Kunst. Gedichte 1984-2014, Dresden 2015; S. 24
Georg Trakl
von Arno Dahmer 11 Juli, 2022
„Rondel“ von Georg Trakl ist eines meiner Lieblingsgedichte. So schlicht es ist (oder auf den ersten Blick scheint), hat es doch eine geradezu berauschende Wirkung auf mich. Text und Bild (siehe oben und links) stammen aus einer sehr alten, beinahe noch zeitgenössischen Ausgabe des Otto Müller Verlags (Salzburg 1939).
Gedenkmünze Stefan George
von Arno Dahmer 27 Juni, 2022
Gestern an einem der Stände der „ Mainzer Johannisnacht “ diese Stefan-George -„Devotionalie“ entdeckt … Meine persönliche „Devotion“ (in vielfachen Anführungszeichen) gilt allerdings ausdrücklich und selbstverständlich (?) nicht der hochumstrittenen Person des Dichters, sondern großen Teilen seines Werks …
Werke von Peter Kurzeck (1943-2013)
von Arno Dahmer 15 Juni, 2022
Da sich die Webadresse geändert hat, setze ich hier noch einmal einen Link zu meinem Essay über den von mir sehr geschätzten Peter Kurzeck (1943-2013). Der Text wurde 2018 auf der Seite „ Faust-Kultur “ publiziert und es geht darin um das eigenartige Verhältnis zwischen dem Leser und dem Verfasser (unmittelbar) autobiografischer Literatur. Nachtrag vom 16. Februar 2024: Mittlerweile existiert das Faust-Kultur-Archiv offenbar nicht mehr. Damit der Text weiterhin verfügbar bleibt, stelle ich ihn hier ein (siehe unten). Wohin mit der Zukunft? – Eine Begegnung mit dem „Frankfurter“ Dichter Peter Kurzeck [1] Anfang 2014, in einem kurzeckschen Nachwinter , fahre ich mit der Linie U5 stadtauswärts. Alle Augenblicke hält die Bahn an einer der dicht aufeinanderfolgenden Stationen – hier, außerhalb des Zentrums, durchweg oberirdisch gelegen; draußen ist es dunkel. Ich vertiefe mich in „Vorabend“, Kurzecks umfangreichsten Roman. – Ich hatte das Buch 2013 zu lesen begonnen, es zwischenzeitlich aber in die Bibliothek zurückbringen und erneut ausleihen müssen. Zahllose Male bin ich diese Strecke gefahren, könnte die Namen der Haltestellen hersagen wie ein Gedicht. Dass wir die Station Hauptfriedhof erreichen, bemerke ich, ohne aufzublicken. Da reißt mich der Gedanke aus meiner Lektüre, dass der Autor, dessen Stimme zu hören ich mir einbilde, diese Welt bereits verlassen hat, im November des Vorjahres, und einen Steinwurf entfernt begraben liegt – Gewann F. Als Leser seiner autobiografischen Romane meinte ich ihn zu kennen. Eine Illusion, natürlich. Möglichkeiten, die reale Person kennenzulernen, hätte es allerdings gegeben; über den weiteren Bekanntenkreis; bei den Lesungen Kurzecks, die ich jedoch immer wieder versäumte; und schließlich eines Nachmittags in der U-Bahn-Station Südbahnhof, wo der leibhaftige Kurzeck für mich im Wortsinn zum Greifen nah gewesen ist. Ich erkannte ihn sofort, hatte ja Fotos von ihm gesehen. Er musste mit mir aus dem Zug gestiegen sein, lief jetzt schräg vor mir und entsprach ganz meinem inneren Bild. Insbesondere der bedächtigen Gangart glaubte ich mich gleichsam zu entsinnen. Einen Notizzettel würde er im nächsten Moment aus der Tasche ziehen, wähnte ich, einen seiner oft verb-, manchmal subjektlosen Sätze darauf schreiben: Wollen uns Zeit lassen! , zum Beispiel. Nachdem ich ihm eine Weile gefolgt war, mit einem Gefühl von Ungehörigkeit, überholte ich ihn, in einem weiten Bogen – gerade so, als könnte er mich seinerseits erkennen. Warum? War es die Angst, enttäuscht zu werden oder selbst zu enttäuschen? Oder vor allem der Wunsch, er solle literarische Figur bleiben, aber irgendwie doch mehr als das, nämlich eine, die man ab und an durch Frankfurt wandeln sieht? Nun, in der Linie U5, bedenke ich diese verpassten Gelegenheiten und habe den Eindruck einer seltsamen Korrespondenz: zwischen der Tatsache, dass von der Zukunft in dieser Hinsicht nichts mehr zu erwarten, ein Kennenlernen ein für alle Mal ausgeschlossen ist, und der Rolle der Zukunft in Kurzecks Werken. Denn seine Romane atmen Gegenwart; genau genommen Gegenwart und Vergangenheit, die zu einem ewigen Augenblick verschmelzen: Als ob dein Leben ein einziger langer Tag. Dagegen kommt die Zukunft darin, scheint mir, nur als etwas Irreales oder Surreales vor – nichts jedenfalls, worauf man allzu große Hoffnungen setzen dürfte. Ein letzter Rest Geld wird als „Zukunft“ bezeichnet ( Und der Umschlag [mit dem Geld] wohin? Wohin mit der Zukunft? ), an anderer Stelle sogar ein in zehn-zwanzig Jahren zu erwartender Herzklappenfehler. Oder der Erzähler rät sich selbst, die Vergangenheit mangels Perspektiven als Zukunftssurrogat zu nutzen: Eine Vergangenheit als Zukunft? Und die Schilderung der persönlichen Wirren Kurzecks nach der Trennung von seiner Lebensgefährtin (in den ersten Bänden des „Alten Jahrhunderts“ [2] ) endet zwar hoffnungsvoll mit dem Bild des Kirschkerns, der den Winter unter einer Schicht von Eis und Schnee überdauert hat; doch scheint die Vergangenheit, einmal gebannt ins immerwährende Jetzt des Erzählens, so letztinstanzlich abgeschlossen, dass schwer vorstellbar ist, wie eine Zukunft daran anschließen sollte: Sie lässt sich hier eigentlich nur in Form einiger weißer Seiten denken. Als werde der Kirschkern für alle Zeit Metapher bleiben und keine Frucht mehr bringen. Die U-Bahn fährt weiter durch die Dunkelheit, Neuer Jüdischer Friedhof, Eckenheimer Landstraße/Marbachweg, Marbachweg/Sozialzentrum, Gießener Straße. Hier auf meinen Knien das Buch; im Erdreich dort draußen der tote Körper. Und , denke ich, vielleicht am Ende wird auch der Tod sich uns nur als Spuk? Ein spukhafter Wahn. Wie Fortschritt und Zeit und Geld. – Und lese dann wieder. [1] Peter Kurzeck (1943-2013) lebte ab 1977 in Frankfurt/M., wo auch die meisten seiner Romane spielen. – Die kursiv gesetzten Passagen sind den folgenden, beim Stroemfeld Verlag in Frankfurt erschienenen Werken entnommen: Übers Eis, 2., korr. Aufl., 2011; Als Gast, 2003; Ein Kirschkern im März, 2004. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Stroemfeld Verlags. [2] Den Romanzyklus "Das alte Jahrhundert" hatte Kurzeck auf zwölf Bände angelegt. Erschienen sind davon sechs - fünf zu Lebzeiten und einer posthum.
von Arno Dahmer 30 Mai, 2022
Kürzlich stieß ich zufällig auf Arno Schmidts „Schwarze Spiegel“. Ich weiß, dass Arno Schmidt – speziell unter Autoren – zahlreiche glühende Verehrer hat. Ich mochte ihn nie besonders, trotz seines Vornamens … 😉. Diese Erzählung aber (rund sechzig Seiten) hat mir gefallen. Nebenbei bemerkt ist der 1951 erschienene Text, angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage, eine beunruhigende Lektüre. Der Ich-Erzähler – der (wie der Leser zunächst annimmt) einzige Überlebende eines Atomkriegs – ist mit dem Fahrrad in Norddeutschland unterwegs und fahndet nach noch verzehrbaren Lebensmitteln und Munition für seine Waffen, später auch nach Möbeln und Bildern für das Holzhaus, das er sich gebaut hat. Er scheint bei alledem vergnügt und vermisst den Rest der Menschheit offenbar nicht. Als jedoch nach sieben Jahren ohne Gesellschaft überraschend ein anderer Überlebender auftaucht (eine Frau), wird deutlich, dass ihm (dem Erzähler) wohl doch etwas gefehlt hat. Blöd nur, dass dieser weibliche „Freitag“, „entwurzelt durch 3 Kriege“ (S. 244), nach kurzer Zeit genug von der Gemeinschaft hat und weiterzieht. Der Erzähler bleibt allein zurück: „ Gegen Morgen kam Gewölk auf (und Regenschauer). Frischer gelber Rauch wehte mich an: mein Ofen! So verließ ich den Wald und schob mich ans Haus: der letzte Mensch“ (ebenda). Dieses Wenige an Handlung ist in das Arno-Schmidt-typische sprachexperimentelle Gewand gekleidet. Insbesondere die Naturbeschreibungen in „Schwarze Spiegel“ haben mich beeindruckt, wobei ich manches als zu gewollt empfinde. Quellennachweis für die Zitate und das Titelbild: siehe unten.
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